Die Toten betrauern, die Verschwundenen betrauern: Das Rätsel des abwesend Gegenwärtigen
Freuds Interesse an den Auswirkungen des Todes auf die Überlebenden reicht noch weiter zurück als bis zur Niederschrift von „Trauer und Melancholie” (1917[1915]). In „Totem und Tabu” (1912–13) verwies Freud auf die Ambivalenz der Gefühle, die wir gegenüber den Toten empfinden. In diesem Beitrag untersuche ich „Trauer und Melancholie” als Meilenstein im Verständnis sowohl der normalen als auch der psychopathologischen Aspekte menschlicher Trauer‐ und depressiver Prozesse. „Trauer und Melancholie” überbrückt gewissermaßen Freuds erste und zweite Topik des psychischen Apparates; die Schrift wird von vielen Autoren als Grundlage seiner Theorie der inneren Objektbeziehungen betrachtet. Ausgehend von diesem psychoanalytischen Verständnis der Trauer diskutiere ich „außergewöhnliche Trauerprozesse”, nämlich die Trauer, mit der argentinische Psychoanalytiker, die die Angehörigen Tausender Menschen behandelten, die in den 1970er Jahren unter der Militärdiktatur „verschwanden”, konfrontiert waren; „außergewöhnlich” sind diese Trauerprozesse insofern, als die äußere Realität, die nach Freud am Beginn des psychischen Trauerprozesses steht, fehlt. Ich vertrete die Ansicht, dass die „abwesende Präsenz” der Leiche als enigmatische Botschaft einen spezifischen Trauerprozess in Gang bringt, der bestimmte Eigenschaften von Laplanches Verführungstheorie aufweist und mit ihr isomorph ist.