Trotz der beachtlichen Simmel-Renaissance hat sich die Soziologie auch über hundert Jahre nach seinen ersten Arbeiten noch kein abschließendes Urteil über sein Werk bilden können. Für die einen ist er der Begründer der „formalen Soziologie“ – Simmel als Struktursoziologe; für die anderen ist er ein kulturhistorischer Zeitdiagnostiker – Simmel als Kultursoziologe. Obgleich nicht falsch, so die werkinterpretatorische These dieses Aufsatzes, zerreißen diese Lesarten den Zusammenhang von Gesellschaftsanalyse und Zeitdiagnose in seinem Werk. Wie lehrreich dieser Zusammenhang auch für die heutige Soziologie noch ist, versucht die systematische These anhand von Simmels Bezugsproblem – dem Verhältnis von sozialer Differenzierung und Individualität – und mit Hilfe seines Bezugsrahmens – dem Wechselspiel von Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit nachzuweisen. Zunächst wird Simmels Wirklichkeitskonzeption und die Eigenart seines soziologischen Ansatzes vorgestellt; sodann wird die gesellschaftliche Entwicklung am Prozess sozialer Differenzierung (Arbeitsteilung und Geldwirtschaft) geschildert; schließlich wird die kulturelle Entwicklung (objektive und subjektive Kultur) skizziert und ihre Rückwirkung auf die individuelle Lebensführung diskutiert.