Seit langem wird befürchtet, dass mediale Berichterstattung über Suizid zu Nachahmung führt. Klare Belege für den so genannten Werther-Effekt liegen jedoch nicht vor; er wurde für Deutschland auch kaum untersucht. Diese Studie revidiert zwei klassische Annahmen zum Werther-Effekt und diskutiert, weshalb sich diese Annahmen für Kausalschlüsse und die Ableitung praktischer Handlungsempfehlungen an die Adresse von Journalisten wenig eignen. Sinnvoller erscheint es, bestehende Widersprüche in Befunden der Werther-Forschung mit der Überlagerung gegenläufiger Effekte zu erklären. In einer Studie wurden 140 Berichterstattungsfälle der Jahre 2001 bis 2003 aus überregionalen Zeitungen inhaltsanalytisch erfasst und dann die jeweiligen Effekte auf die deutsche Suizidrate quasi-experimentell geprüft. Bis auf einen Einfluss der Modellähnlichkeit auf die Suizidrate junger Männer bestätigten sich die Annahmen nicht. Da zahlreiche Konfundierungen die Kausalaussage des Quasi-Experiments schwächen, wurden anschließend mit einer Clusteranalyse vier natürliche Typen von Suizidberichterstattung identifiziert, die alle konfundierenden Aspekte zusammenfassen. Nach Berichten, die vage Prominenz nutzen, zeigte sich ein klassischer Werther-Effekt mit kurzfristig steigender Suizidrate. Dagegen sanken die Suizide nach Berichten über anonyme Täter, was die Erwartung eines umgekehrten Werther-Effekts bestätigt. Die anderen beiden Typen verursachten keine erkennbaren Unterschiede.